1. Kulturplatz Gockhausen 5. Mai 2019 // Beitrag Monika Binkert

Über die Kunst des Perspektiven-Wechselns

ANGENOMMEN, wir wären Meisterinnen und Meister im Perspektiven-Wechseln: Wir wären Meister*innen darin, die Dinge in der Welt und uns selbst von ihren unterschiedlichsten Seiten her zu betrachten – von vorne, hinten, unten, oben, von der Seite, im schiefen Winkel und so weiter. Wir wären Meister*innen darin, unser Leben in all seinen Facetten und Dimensionen wahrzunehmen und zu erfahren.

Wie sähe die Welt dann aus? Wie sähen die Lösungen für die Themen in unserer Welt und in unserem eigenen Leben aus? Wie würden wir uns selbst erleben, wie unsere Beziehungen zu anderen Menschen – zu unseren Liebsten, Freundinnen, Nachbarn?

Gerne lade ich Sie zu einer kleinen gedanklichen Reise rund um die Kunst des Perspektiven-Wechsels ein, zu ein paar Reflexionen, wie wir unser Leben und unsere Beziehungen auch noch erfahren könnten.

Unsere Perspektive – also unsere Vorstellungen, unsere Überzeugungen von Gut und Schlecht, Richtig und Falsch, unser Bild vom Mensch-Sein, unser Bild von der Welt überhaupt – bestimmt ganz entscheidend unser Fühlen, Erleben, Wollen und Handeln.

Oft sind wir uns unserer Perspektive gar nicht bewusst. Sie ist uns so nahe, so eigen, so selbstverständlich und so vertraut, dass wir sie kaum wahrnehmen. Und gleichwohl hat sie eine enorme Kraft. Sie agiert wie ein Filter, sortiert unsere Gedanken und steuert unsere Empfindungen unmittelbar.

Woher kommt dieser Filter – diese Perspektive? “Our perception is the reflection of our history.” Übersetzt: “Unsere Wahrnehmung ist das Spiegelbild unserer Geschichte.“, sagt der Systemforscher Peter Senge. Oder wie die Psychologin Christa Maria Gerigk sagt: „Unsere Gedanken fliessen durch die Erinnerungen.“

Unsere Perspektive also als Ergebnis und Ausdruck unserer Geschichte, Muster und Gewohnheiten; sie spiegelt Vergangenes, Gelerntes und Eingeübtes.

Dazu möchte ich Sie gerne zu einem ersten EXPERIMENT einladen. EXPERIMENT N° 1 (live Demo)

Ich vergleiche unsere Perspektive gerne mit einem Gebäude, das wir im Laufe der Zeit konstruieren. Ein GedankenGEBÄUDE – voller Annahmen und Interpretationen darüber, WER wir sind, WIE wir sind, WIE die Welt ist und WIE sie funktioniert. Wir erzählen uns selbst und anderen fortwährend über dieses Gebäude, entwickeln so unser eigenes Narrativ, unsere eigene Geschichte über uns und die Welt. Und so hören wir uns sagen:

«Ich bin eine schlechte Schläferin.»
«Ich bin ein schlechter Redner.»
«Ich bin ein ungeduldiger Mensch.»
«Ich bin entscheidungsgehemmt.»
«Ich bin beziehungsunfähig.»
«Ich bin oft knapp bei Kasse.» «Ich bin, ich bin, ich bin ...»

Gedanken – ob bewusst oder unbewusst – formen und beeinflussen die Wirklichkeit, d.h. mit unserem Gedankengebäude gehen wir in Resonanz mit der Welt. Und mit jedem Erzählen wird unser Gebäude stabiler – bis wir selbst das Gebäude sind und es Wirklichkeit wird. So reproduzieren wir uns in der immer gleichen Weise und erzeugen wieder und wieder gleiches Erleben. Ein Kreislauf, ein Irrkreis, der uns in den immer gleichen Mustern, im immer gleichen Trott gefangen hält und ganz offensichtlich kaum Entwicklung zulässt und.

Wie könnte es uns gelingen, uns von dieser begrenzenden Perspektive zu lösen, uns von unseren Selbstzuschreibungen, Konzepten und der Schwerkraft des Gewohnten zu befreien, Muster zu durchbrechen und über den berühmten eigenen Tellerrand hinaus zu blicken?

Hier nun kommt die Kunst des Perspektivenwechsels ins Spiel. Eine Kunst, die zunächst ganz wesentlich darin besteht, die Annahmen und Überzeugungen in unserem Denken zu überprüfen. In einem ersten Schritt könnte das dann ganz einfach heissen:

„ICH BIN NICHT NUR DAS, WAS ICH DENKE – ICH BIN VIEL MEHR, ALS DAS, WAS ICH DENKE.“

Damit schaffen wir zunächst natürlich Verwirrung und wir fragen uns: WER sind wir dann? WIE sind wir dann? WIE funktionieren wir dann?

Plötzlich mehr Fragen als Antworten zu haben ist ungewohnt, ja anstrengend – im Grunde aber ein idealer Zustand, der uns hilft, Schritt für Schritt in neue Dimensionen vorzudringen.

Wenn wir wieder an unser Gedankengebäude denken, dann könnte das heissen, dass wir damit beginnen, unser Gebäude anders zu denken, dieses umzugestalten, zu modernisieren und mit neuen Räumen zu ergänzen.

Wenn wir unser Gebäude neu modellieren, gehen wir anders in Resonanz. Es werden neue Blickwinkel möglich, neue Räume erschliessen sich uns – auch Wahrnehmungs- und Erlebnisräume ausserhalb der Logik unseres gewohnt-rationalen Denkens. Wir schaffen neue Zugänge über unsere Empfindungen, über unsere körperlichen und sinnlichen Wahrnehmungen, über „multisensorisches Erleben“. Statt den immer gleichen Mustern öffnen wir uns den Tausenden von anderen Möglichkeiten, wie wir das Leben auch noch erfahren könnten. Wir gewinnen neue Freiheiten und werden uns – so nebenbei – unserer enormen Gestaltungskraft bewusst.

Denken formt und konstruiert unsere Wirklichkeit. Ständig. Weshalb also unser Denken nicht in eine konsequent stärkende, wertschätzende, liebevoll-annehmende Richtung lenken? Weshalb unsere Vorstellungen und Erwartungen statt vergangenheitsbezogen und an Defiziten orientiert nicht auf ein komplett positiv «getuntes» Bild der Gegenwart und Zukunft ausrichten? Dazu ein weiteres EXPRIMENT, zu dem ich Sie gerne einladen möchte.

Bitte nehmen Sie drei tiefe Atemzüge und schliessen Sie beim dritten Mal die Augen: Ich möchte Sie nun bitten – jede und jeder für sich in Gedanken:

SICH ALS GESCHENK FÜR DIESE WELT ZU BETRACHTEN. ALS ANERKENNUNGSWÜRDIGES UND WERTVOLLES GESCHENK ALS BEDINGUNGSLOS WERTVOLLES GESCHENK FÜR DIESE WELT.

Wie fühlt sich das an? Wie fühlt es sich an, wenn ich mich als Geschenk für diese Welt betrachte? Welche Gefühle und Empfindungen stellen sich ein? Stellen Sie sich nun in Gedanken vor, Sie würden aufstehen und in diesem schönen Raum umhergehen: Wie gehe ich, wenn ich mich als Geschenk für diese Welt betrachte – welche Haltung nehme ich ein? Was verändert diese neue Betrachtung in mir?

Ich lade Sie herzlich ein, sich in dieser Betrachtung zu üben, sie häufiger anzustellen, bis sie sich stabilisiert und zu einem Teil Ihres Gebäudes wird. Freuen Sie sich schon heute darüber, welche Wenden und Entwicklungen sich in Ihrem Leben einstellen, welche Fülle und Momente der Freude Sie erfahren werden.

Perspektivenwechsel sind eine enorm wertvolle Ressource für Veränderung und persönliches Wachstum. Diese Ressource können wir aber nicht nur in uns selbst finden, sondern auch im Miteinander mit anderen Menschen. Wir können uns in unseren Perspektiven vernetzen, um Dinge gemeinsam anzugehen.

Wenn wir in Beziehung gehen und uns gegenseitig für die Perspektive des anderen öffnen, dann tut sich ein weiteres riesiges Feld an Möglichkeiten auf, die – quasi potenziert – regelrechte Entwicklungssprünge möglich machen.

Dieses in Beziehung-Gehen können wir noch radikaler denken. «Der Mensch wird erst im Du zum Ich.», schrieb der Theologe und Philosoph Martin Buber und nahm den Austausch zwischen den Menschen zum Ausgangspunkt des Mensch-Seins und menschlicher Entwicklung. «Alles wirkliche Leben ist Begegnung.», schrieb Buber. «Die fremden Teile in mir erkenne ich nur im Du und Wir.» und «ohne Dialog entferne ich mich von mir selber». Selbstentfaltung und wahrhaftig sein sind nur in der Beziehung mit anderen Menschen möglich, mein «Ich» kann ich erst im «Du» und «Wir» erfahren.

Die Welt also ein Beziehungsphänomen? Begegnung und Dialog als Prämissen des Mensch-Seins überhaupt? In Beziehung-Sein fordert uns jedenfalls zum ständigen Perspektivenwechsel auf. Und die Kunst darin wird dann zu dem, was wir EMPATHIE nennen.

Und das bringt mich zum dritten und letzten EXPERIMENT.

Stellen Sie sich vor, Sie treffen die Annahme, sich als Geschenk für diese Welt zu betrachten, nicht nur für sich selbst, sondern auch für Ihr Gegenüber – das ginge dann etwa so:

WEIL MEIN GEGENÜBER EBENFALLS EIN GESCHENK FÜR DIE WELT IST, BETRACHTE ICH ES ALS GLEICHERMASSEN WERTVOLL UND ANERKENNUNGSWERT. ICH KONZENTRIERE MICH AUF DIE POSITIVEN ASPEKTE DES ANDEREN, WEIL ES DAS LEBEN EINFACH UND LEICHT MACHT UND: WEIL ES SO EINFACH MEHR FREUDE MACHT. 

Ich lade Sie herzlich ein, sich auch in dieser Betrachtung zu üben.

Weitere Quellen: Arno Gruen, Der Verlust des Mitgefühls, 6. Auflage, 2005, München; Natalie Knapp, Der Quantensprung des Denkens, 2011, Hamburg; Gunther Schmidt, Symphonien mit allen Sinnen, Rede 2014 in Heidelberg, Steve de Shazer, Der Dreh, 13. Auflage 2015, Heidelberg; Jiddu Krishnamurti, Schöpferische Freiheit, 5. Auflage, 2017

Monika Binkert